NS-Zwangsarbeit und Zwangsarbeitslager in Ostfriesland – Workshopbeitrag III

Alwin de Buhrs Vortrag, bei dem Workshop über die Geschichte der NS-Zwangs­arbeit und der Zwangs­ar­beits­lager in Ostfriesland, wird hier als dritter Workshop­beitrag veröffentlicht.

Abb. 1: Ukrai­nische Zwangs­ar­bei­te­rinnen bei der Patro­nen­fer­tigung im Marine­ar­senal Tannen­hausen, 1944. Das Foto gehört zu einer Serie von Propa­ganda-Bildern, die während eines Inspek­ti­ons­be­suchs von Admiral Krause entstanden. Abgedruckt in: Chronik M Mun Dp 2, Manfred Staschen, Aurich 1983, S. 27.

Die fünf Lager für Zwangs­ar­bei­tende rund um das Marine­ar­senal Tannen­hausen und ihr Einsatz in der Rüstungsproduktion

Von Alwin de Buhr, Projekt­gruppe Kriegs­grä­ber­stätte Tannenhausen

Wie kam es zu fünf Lagern rund um das Marine­ar­senal Tannenhausen?

Die Natio­nal­so­zia­listen begannen direkt nach ihrem Macht­an­tritt 1933 mit einer enormen Aufrüstung, um das Deutsche Reich zur stärksten Nation in Europa zu machen. Ab 1935 glich das Kreis­gebiet in Aurich einer militä­ri­schen Großbau­stelle. Es kam zu einer massiven Anwerbung von Bauar­beitern, denn im Meerhusener Forst sollte eine Neben­stelle des Marine-Arsenal-Zeugamtes Wilhelms­haven (kurz MAZ) aufgebaut werden. Bereits 1936 begannen die Rodungs­ar­beiten, aber sehr behutsam, denn durch die Bäume sollte für die zahlreich geplanten Muniti­ons­bunker und Ferti­gungs­hallen genügend Sicht­schutz erhalten bleiben, damit diese Einrich­tungen vor möglichen Bomben­an­griffen unent­deckt und geschützt blieben. Und tatsächlich kam es während des Zweiten Weltkriegs zu keinem Bomben­an­griff. Nach dem Krieg waren die kanadi­schen Besat­zungs­sol­daten sehr überrascht hier eine Rüstungs­fabrik vorzufinden.

Abb.2: Einzug der Marine­sol­daten in Aurich Richtung Markt­platz am 1. Oktober 1938. Foto: Nachlass A. Rohlfs

Am 1. Oktober 1938 zogen die ersten Marine­sol­daten in Aurich ein und die Stadt wurde mit der Einrichtung der Marine-Nachrich­ten­schule wieder Garni­sons­standort. 1937 wurde die Verbin­dungs­straße von der West- zur Ostwache durch das bereits einge­zäunte ca. 400 ha große Arsenal­ge­lände fertig und so eine Anbindung zu den wenig vorhan­denen öffent­lichen Verkehrs­straßen herge­stellt. An beiden Enden der Straße sollten später die Lager West und Ost entstehen. 

Die Baufirmen Speek, Freitag und Kistner waren zeitweilig mit mehr als 2000 Arbeits­kräften – darunter auch viele westeu­ro­päische Zivil­ar­beiter – mit dem Aufbau des Arsenals beschäftigt. Für nötige Trans­porte auf dem Arsenal­ge­lände und zur Anbindung an den öffent­lichen Schie­nen­verkehr wurde ein Schmal­spur­bahnnetz erstellt. Bereits Anfang 1938 wurden die ersten Muniti­ons­la­ger­häuser an die Marine übergeben. Bald rollten die ersten Trans­porte mit Munition und mit Kriegs­beginn 1939 stieg die Muniti­onsaus- und Zulie­ferung stark an.

Abb. 3: Lageplan des Marine­ar­senals Aurich-Tannen­hausen (grün) mit den Stand­orten der fünf Lager (gelb). Quelle: Tannen­hausen – ein Ort mit Geschichte, Histo­ri­sches Museum Aurich, 1988.

Das Lager Ost

1941 wurde das erste Baracken­lager errichtet und zwar auf dem Grund­stück der Familie Chris­tians in Dietrichsfeld. Es bestand aus zwei Unter­kunfts­ba­racken, einem Küchen- und einem Unter­richts- bzw. Veran­stal­tungs­trakt sowie einer Wasch- und Toilet­ten­anlage.[i] Außer zur Unter­bringung der militä­ri­schen Wachmann­schaft (ca. 40 Marine­sol­daten) diente dieses Lager Ost später auch als Unter­kunft für junge zwangs­de­por­tierte ukrai­nische Frauen. In einer Baracke waren auch Angehörige der Organi­sation Todt (OT) einquar­tiert. Das Lager Ost war von drei Seiten durch einen Zaun umgeben, der das gesamte Marine­ar­senals umgab. Zu einer Seite war das Lager durch Pforten frei zugänglich, lag aber im Zugriffs­be­reich der Wachsol­daten der Ostwache. In allen Lagern sollen – laut Manfred Staschen – SS-Angehörige in Zivil und andere für die Überwa­chung der Zivil- und Zwangs­ar­bei­tenden zuständige Personen unter­ge­bracht gewesen sein.

Abb. 4: Skizze vom Lager Ost. Quelle: Chronik M Mun Dp 2, Manfred Staschen, Aurich 1983, S. 30f.
Abb. 5: Baracke vom Lager West vor dem Arsenal in Tannen­hausen / Meerhusen. Das Lager West hat nach dem Krieg viele Jahre als Sanatorium für Tbc-Kranke gedient und wurde dann abgerissen. Foto: Nachlass A. Rohlfs

Das Lager West

Das Lager West war das größte der fünf Lager. Hier war in erster Linie die Bauleitung des Arsenals unter­ge­bracht. Es bestand aus elf Gebäuden, wobei die Küche und Kantine für die Verpflegung der Bauleitung, der Soldaten und der Angehö­rigen des Reichs­ar­beits­dienstes im Arsenal genutzt wurde. Es diente auch als Veran­stal­tungs­zentrum für alle im Bereich Tannen­hausen und Meerhusen statio­nierten Wehrmachts­an­ge­hö­rigen und deren Gefolge.

Ab 1942 wurden hier auch die ersten sowje­ti­schen zwangs­de­por­tierten Männer einquar­tiert. Im September 1944 fand eine Verlegung von einer größeren Anzahl westeu­ro­päi­scher Fremd­ar­beiter nach Loppersum in das Lager der Deutschen Arbeits­front (DAF) statt. Wahrscheinlich handelte es sich bei den mehr als 50 Männern aus Belgien, den Nieder­landen und Frank­reich um Bauar­beiter, die nach der Einstellung der Bauar­beiten im Arsenal nicht mehr benötigt wurden. Jeden­falls waren sie in der Betriebs­kran­ken­kasse der Marine nicht regis­triert. In Einzel­fällen liegen Dokumente vor, die auch einen Arbeits­platz­wechsel bestätigen.

Nach Angaben von Manfred Staschen sollen die franzö­si­schen Zivil­ar­beiter des Arsenals ausnahmslos in Aurich in der Zingel­turn­halle unter­ge­bracht gewesen sein. Aber mittler­weile gibt es eindeutige Hinweise, dass die franzö­si­schen Zivil­ar­beiter ebenfalls in Tannen­hausen unter­ge­bracht waren. Hingegen gibt es keine Belege dafür, dass die in der Turnhalle Einquar­tierten im Arsenal gearbeitet haben. Vielmehr waren die in der Turnhalle Unter­ge­brachten bei Betrieben in der Stadt Aurich zur Zwangs­arbeit eingesetzt.

Das Lager für sowje­tische Kriegsgefangene

Am Südrand des Dorfes Tannen­hausen, westlich der Landes­straße 7 wurde Ende 1941 ein aus fünf Holzba­racken bestehendes Lager für 200 sowje­tische Kriegs­ge­fangene errichtet. Dieses Lager, das Arbeits­kom­mando Nr. 5885, gehörte ebenfalls zum Lager­system rund um das Marine­ar­senal. Südlich grenzte das Lager mit einer Verla­de­rampe unmit­telbar an die „Arsenalbahn“, die Bahnver­bindung von Aurich zum Marine­ar­senal. Auf Grund schlechter Versorgung durch die Wehrmacht starben – im Winter 1941/1942 – vermutlich mehr als 200 sowje­tische Kriegsgefangene.

Abb.6: Schmal­spurbahn des Arsenals, 1944. Quelle: Nachlass A. Rohlfs
Abb.7: Das ehemalige Kriegs­ge­fan­ge­nen­lager an der Landesstr. 7 nach Dornum im Jahre 1947, als bereits Heimat­ver­triebene dort wohnten. Quelle: Tannen­hausen – ein Ort mit Geschichte, Histo­ri­sches Museum Aurich, 1988.

Das Lager Süd

Das Lager Süd bei der Wache am südlichen Eingang gelegen, war für weitere zwangs-depor­tierte Männer geplant. Dieses Lager war nur nach einer Seite mit einer Pforte versehen und dort frei zugänglich. Die vorhandene Küche war nur für die Verpflegung der dortigen Lager­in­sassen zuständig.[ii]

Das Lager Nord

Das älteste bestehende Baracken­lager nördlich des Arsenals und des Silbersees gelegen, gab es bereits seit 1906. Es entstand in Abelitzmoor I, einer Moorko­lonie. Die Kulti­vie­rungs­ar­beiten wurden von 30–40 Straf­ge­fan­genen verrichtet. 1935 wurde in Abelitzmoor I ein Lager des Reichs­ar­beits­dienstes (RAD) einge­richtet. Später waren hier auch deutsche dienst­ver­pflichtete Frauen untergebracht.

Nachdem das RAD-Lager im Krieg aufgelöst und nach Collrunge verlegt worden war, entstand hier ein Lager für angeworbene und dienst­ver­pflichtete ukrai­nische und sowje­tische Frauen, die in der Landwirt­schaft, aber auch in Haushalten einge­setzt wurden. Das Lager Nord war das einzige Zwangs­ar­beits­lager des Arsenals, das keinen direkten Zugang zum Arsenal hatte und auch keine eigene Wache. Es gibt nur wenige Infor­ma­tionen darüber, wie und in welchem Umfang Wachleute bei dem Frauen­lager im Einsatz waren.

Dokumente über drei verstorbene ukrai­nische Frauen dieses Lager belegen nun, dass – anders als vermutet – die dort unter­ge­brachten zwangs­re­kru­tierten Frauen nicht ausschließlich in der Landwirt­schaft und im Haushalt, sondern vor allem im Arsenal als Muniti­ons­ar­bei­te­rinnen gearbeitet haben.[iii]

Abb. 8; Grabstein auf dem Friedhof Aurich; Halina Kowtunez, geb. 1924 in Wilchy, Kreis Poltawa, starb mit 19 Jahren am 18.11.1943 im Sandhorster Krankenhaus an einer Lungen-Tbc
Abb. 9; Grabstein auf dem Friedhof Aurich; Daria Moros, geb. 19.4.1922 in Barscht­schierka, Kreis Kremenez starb mit 22 Jahren am 29.7.1944 an einer Lähmung des Zentral­ner­ven­systems im „Frauen­ge­mein­schafts­lager Meerhusen“, Abelitzmoor.
ABB. 10; Grabstein Friedhof Aurich; Paraska Petschenik, geb. 15.10.1924 in Jerki, Kreis Poltawa, starb mit 19 Jahren am 20.4.1944 im Sandhorster Krankenhaus an Lungen-Tbc. Fotos: Gerhard Fischer, Upstalsboom-Gesellschaft.

Gestützt wird diese neue Erkenntnis auch von den Berichten zweier ehema­liger ukrai­ni­scher Zwangs­ar­bei­te­rinnen des Marine­ar­senals, Domka L., geb. 1924 und Maria P., geb. 1925, die sich im Rahmen ihrer Wieder­gut­ma­chungs­ver­fahren 2002 entspre­chend äußerten.[iv]

Domka L.:
„Wir waren ca. 250 Mädchen, 5 km vom Arsenal entfernt. Wir schliefen zu zwölft in einem Raum der Baracken aus Holz, in Doppel­betten mit Stroh­kissen und Matratzen ohne Decken. Das Arsenal wurde geführt von einem Offizier und seiner Frau [gemeint sind Kapitän­leutnant der Marine Gördes und seine Ehefrau]. Er wurde von allen gefürchtet. […] Einmal wurde eine Frau an die Wand gestellt, um erschossen zu werden, weil sie sich über zu wenig Marmelade beschwert hatte. Ohne das Eingreifen der Frau des Komman­danten wäre die Frau zweifellos erschossen worden.

Wir bekamen nicht genug zu essen, um zu überleben. Die Wachen im Arsenal trugen Waffen, sodass man immer Angst hatte, erschossen zu werden. Zum Frühstück gab es nur Kaffee oder Tee und nichts zu essen. Das Mittag­essen bestand aus Wasser­suppe mit ein paar Kartoffeln und süßen Rüben. Abends gab es eine kleine Menge Rotkohl, Kartoffeln und Wurzeln, Pferde­fleisch gab es vielleicht einmal die Woche. Rationen von einem Brot mit einem Löffel voll Marmelade sollten für eine Woche reichen.“

Abb. 11: Die Zivil­wache vor dem Wachge­bäude des Arsenals (heute Gebäude 1), undatiert. Foto: Nachlass A. Rohlfs

Zwangs­arbeit im Marine­ar­senal in Tannenhausen

Zu Beginn des Jahres 1943 waren mehr als 500 auslän­dische Arbeits­kräfte im Arsenal beschäftigt, darunter über 80 Ukrai­ne­rinnen, rund 200 sowje­tische Kriegs­ge­fangene und etwa 100 männliche russische Zwangs­de­por­tierte.[v] Die Natio­na­li­täten und die Anzahl der übrigen 120 auslän­di­schen Zwangs­ar­bei­tenden werden in der Chronik des Marine­ar­senals nicht genannt. Fest steht nur, dass es sich sowohl um Polen als auch um Nieder­länder, Belgier und Franzosen handelte. Von weiteren zwangs­de­por­tierten Frauen, außer den Ukrai­ne­rinnen wird nicht berichtet, gleichwohl gibt es Belege dafür, dass zumindest eine Belgierin – Maria van der Hagen – als Muniti­ons­ar­bei­terin im Arsenal in Tannen­hausen gearbeitet hat. Sie wurde bis zum 6. Mai 1945 in den Unter­lagen der Betriebs­kran­ken­kasse in Wilhelms­haven geführt.[vi]

Die einhei­mi­schen Zivil­be­schäf­tigten des Arsenals werden auf 450 bis 500 Männer und Frauen beziffert. Sie waren also etwa gleich­stark wie die Gruppe der auslän­di­schen Zivil- und Zwangs­ar­bei­tenden. Da in Schicht­arbeit gearbeitet wurde und akuter Perso­nal­mangel herrschte, je länger der Krieg dauerte, erhöhte sich bis zum Kriegsende vermutlich der Anteil der auslän­di­schen Arbeits­kräfte gegenüber dem Anteil der deutschen Beschäf­tigten noch einmal deutlich. Die Aussage von Domka L. legt das jeden­falls nahe, wenn sie von etwa 250 jungen Frauen spricht, mit denen sie täglich vom Lager zum Arsenal fuhr.

Maria P., die vor dem Einsatz im Marine­ar­senal bei einem Bauern in der Oster­marsch im Kreis Norden und bei einem Bauern in Barstede-Ihlow gearbeitet hatte, erinnerte sich an die Arbeit, die sie im Marine­ar­senal verrichten musste:

„Nach ein paar Jahren auf den Bauern­höfen musste ich in das Marine­ar­senal nach Tannen­hausen. Meine Arbeit bestand darin, Mörser­gra­naten für die Wehrmacht zu säubern und zu verpacken. Die Lebens­be­din­gungen im Arsenal waren sehr ärmlich und wir hausten in Holzba­racken. Früh am Morgen gab es sehr wenig zu frühstücken, dann wurden wir mit einem Trans­portzug zur Arbeit gebracht, wo wir bis zu später Stunde arbeiten mussten. Danach wurden wir zu den Baracken zurück­ge­fahren und erhielten eine schmale Mahlzeit und gingen dann schlafen.“[vii]

Auch Domka L. schil­derte, wie unerträglich die Bedin­gungen waren:

„Die Arbeit im Arsenal war sehr anstrengend, vor allen Dingen auf leerem Magen. […] Jeder versuchte nur zu überleben, manchmal ohne Schuhe, wir hatten nur das, was wir von zu Hause mitge­bracht hatten.

Mir wurde der Blinddarm entfernt, doch ich musste gleich am nächsten Tag wieder arbeiten, nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen war. Wenn die Alliierten angriffen, rannten die Deutschen gleich in ihren Bunker, aber wir Arbeits­kräfte mussten uns nur so gut es ging ohne Bunker schützen.“[viii]

Explosion im Nähsaal

Am 21. April 1943 kam es im Marine­ar­senal Tannen­hausen zu einer verhee­renden Explosion im Nähsaal für Pulver­säcke. Bei dem Unfall starben zwölf deutsche Arbei­te­rinnen – zehn von ihnen stammten aus dem Kreis Aurich, zwei aus Wittmund. Dass bei der Explosion ausschließlich Deutsche zu Tode kamen, deutet darauf hin, dass deutsche Dienst­ver­pflichtete und ukrai­nische Zwangs­ar­bei­te­rinnen in getrennten Schichten arbei­teten und sich der Unfall während des Schicht­dienstes der deutschen Muniti­ons­ar­bei­te­rinnen ereignete. Die Ursache für das Unglück blieb nach Angaben von Manfred Staschen ungeklärt. Die Gestapo verdäch­tigte wohl einen Franzosen als Saboteur. Über Einzel­heiten nach der Verhaftung des franzö­si­schen Zivil­ar­beiters sei nichts nähere bekannt geworden.[ix]

Ich kann jedoch inzwi­schen belegen, dass der verdäch­tigte Franzose Mathieu M. am 7. Mai 1943 wegen Sabota­ge­ver­dacht ins Auricher Landge­richts­ge­fängnis einge­liefert wurde und drei Tage später dem Landrat vorge­führt wurde. Der Landrat hat ihn sehr wahrscheinlich der Gestapo übergeben, denn einen Monat später kam er über die Gestapo mit einer Pneumonie ins Städtische Krankenhaus nach Wilhelms­haven. Vom selben Krankenhaus gibt es ein Dokument, das belegt, dass er dort bereits 1941 wegen einer Gastritis behandelt wurde.[x] Viele der in Tannen­hausen tätigen Arbeits­kräfte des Marine­ar­senals waren zuvor in Wilhelms­haven beschäftigt gewesen, wie auch das folgende Fallbei­spiel zeigt.

Abb.12: Angehörige der Feuer­wache des Arsenals bei einer Löschübung, undatiert. Foto: Nachlass A. Rohlfs

Eine gefähr­liche Arbeit – ohne jeglichen Arbeitsschutz

Von einem weiteren Arbeits­unfall im Marine­ar­senal in Tannen­hausen erfahren wir erst 2001 durch ein Schreiben an die Stadt Emden bezüglich eines Versor­gungs­an­trages. Hanna L., geboren 1925 in der Ukraine ließ durch ihren Neffen bei der Stadt Emden anfragen, ob die Stadt ihr eine Beschei­nigung über ihren Aufenthalt in Deutschland ausstellen könne.[xi]

Hanna L., so berichtete der Neffe, war ab Oktober 1942 in Wilhelms­haven im Marine­ar­senal einge­setzt. Nach der Zerstörung des Arsenals durch einen Luftan­griff am 11./12. Februar 1943 kam sie in das Arsenal nach Tannen­hausen. Hanna L. erinnerte sich, dass deutsche und auslän­dische Arbeits­kräfte durch den Schicht­dienst getrennt waren. Die auslän­di­schen Arbeits­kräfte arbei­teten tagsüber und die deutschen Arbeits­kräfte nachts.

Im Herbst 1943 erlitt sie während ihrer Arbeit an den Geschoss­hülsen einen schweren Arbeits­unfall. Nachdem sie an der Drehbank Zündstücke heraus­ge­dreht hatte, explo­dierte eines in ihrer Hand, dabei verlor sie mehrere Finger und ein Auge durch Splitter. Sie wurde zuerst im Sandhorster Krankenhaus behandelt und kam anschließend nach Emden in das Militärlazarett.

Nach ihrem Kranken­haus­auf­enthalt kam sie zur Nachbe­handlung ins Reilstift nach Aurich bis Ende 1943. Anschließend arbeitete sie in der Küche in einem der Lager des Arsenals, vermutlich im Lager Nord. Nach einem weiteren Kranken­haus­auf­enthalt im Sommer 1944 mit einer Blind­darm­ent­zündung, wurde sie nicht mehr im Marine­ar­senal einge­setzt, sondern arbeitete bei einem Landwirt in Twixlum. Dort blieb sie bis zum Kriegsende und kehrte nach der Befreiung in die Ukraine zurück.

Bereits im März 1943 ereignete sich ein Betriebs­unfall, bei dem der Belgier Felix Meert, geboren 1898, mehrere Rippen­brüche erlitt und an den Folgen am 11.4.1943 starb. Er wurde auf dem Auricher Friedhof bestattet. Vor seiner Tätigkeit in Tannen­hausen war er 1941 bei der Marine in Wilhelms­haven in der Wäscherei.[xii] Sein Grab in Aurich existiert nicht mehr, er wurde nach dem Krieg umgebettet. Aus der Unfall­liste der Betriebs­kran­ken­kasse des Marine­ar­senals und aus Kranken­haus­listen geht hervor, dass im Jahr 1943 noch zwei Franzosen und ein polni­scher Zwangs­ar­beiter leichtere Unfälle mit anschlie­ßendem Kranken­haus­auf­enthalt erlitten und im Jahr 1943/1944 drei Ukrai­ne­rinnen durch Unfälle verletzt wurden.[xiii] Eine von ihnen war Hanna L..

Brutale Zwangs­aus­hebung von Arbeits­kräften in der Heimat

Ein von der deutschen Zensur abgefan­gener Brief aus der Ukraine ist erhalten geblieben. Darin schildert Antonia Sidelnik (aus Lanowtze bei Dubno) ihrer Schwester Raissa Sidelnik, die sich zum damaligen Zeitpunkt bereits als Zwangs­ver­pflichtete in Ostfriesland, im Lager Nord in Tannen­hausen aufhielt, über die „Anwer­be­prak­tiken“ der Deutschen in der Ukraine. Diesen Brief hat Raissa Sidelnik, die bis zum Kriegsende 1945 im Arsenal arbeitete, nie erhalten.[xiv]

„Am 1.10.[1942] fand eine neue Aushebung von Arbeits­kräften statt, aber diese lässt sich mit der damaligen nicht vergleichen. Von dem, was geschehen ist, werde ich Dir das Wichtigste beschreiben. Du kannst Dir diese Bestia­lität gar nicht vorstellen. Man muss sie gesehen haben, um sie für möglich zu halten. Du erinnerst dich wohl daran, was man uns während der Polen­herr­schaft über die Sowjets erzählt hat, so unglaublich ist es jetzt auch, und wir glaubten es damals nicht. Es kam der Befehl 25 Arbeiter zu stellen, aus Kremenetz kamen Leute vom Arbeitsamt und bestimmten die betref­fenden Leute, ihnen wurden Werbungs­karten zugestellt, aber keiner hat sich gemeldet, alle waren entflohen. Dann kam die deutsche Gendar­merie und fing an, die Häuser der Entflo­henen anzuzünden. … Das Feuer wurde sehr heftig, da es seit 2 Monaten nicht geregnet hatte, dazu standen die Getrei­de­schober auf den Höfen. … Die Leute eilten herbei, um zu löschen, man verbot es ihnen, sie wurden geschlagen und verhaftet, sodass 6 Wirtschaften nieder­brannten. … Die Leute fallen auf die Knie und küssen ihnen die Hände, die Gendarmen aber schlagen mit Gummi­knüppeln auf sie los und drohen, dass sie das ganze Dorf nieder­brennen werden. Ich weiß nicht, womit das geendet hätte, wenn Iwan Sapurkany sich nicht ins Mittel gelegt hätte. Er versprach, dass bis zum Morgen Arbeiter da sein würden. Während des Brandes ging die Miliz durch die anderen Dörfer, nahm die Arbeiter fest und brachte sie in Gewahrsam. Wo sie keine Arbeiter fanden, sperrten sie die Eltern so lange ein, bis die Kinder erschienen. So wüteten sie die ganze Nacht in Bielo­sirka. Auch in anderen Dörfern spielt sich dasselbe ab […] Man ist schon eine ganze Woche auf der Jagd … und immer hat man noch nicht genügend gefangen. Die gefan­genen Arbeiter sind in der Schule einge­sperrt, sie dürfen nicht einmal hinaus, sondern müssen es wie Schweine im selben Raum erledigen. […] Ich schreibe Dir das alles, bin aber nicht überzeugt, dass es in Deine Hände kommt. Du musst mir die Wahrheit schreiben, wo und was Du arbeitest und für was für einen Hundefraß. Du schreibst, dass Du Herrn Müller glaubst, der auf der Versammlung sagte, man nehme die Arbeiter auf 5 Monate. Jetzt sehe ich, dass man ihnen nichts glauben kann, die lügen ebenso wie die Sowjets und vielleicht noch schlimmer.“[xv]


[i] Vgl. Chronik M Mun Dp 2, Manfred Staschen, Aurich 1983, S. 22.

[ii] Vgl. Chronik, S. 27–31.

[iii] Vgl. Arolsen Archives (AA), hier und im Folgenden die Unter­lagen zu den Kreisen Aurich, Norden, Friesland und Wittmund sowie den Städten Emden und Wilhelms­haven. Ein weiteres Todes­opfer war Dasga Kaos, geb. 1.4.1922 (lt. Dokumenten in Russland). Sie/Er starb am 14. August 1944 in einem der Tannen­hau­sener Lager. Aufgrund der vorlie­genden Daten kann nicht endgültig geklärt werden, in welchem der Lager und ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte.

[iv] Vgl. Nieder­säch­si­sches Landes­archiv, Abteilung Aurich (NLA AU) Rep. 253 Nr. 56, Zwischen­an­fragen 137 von Domka L. und 397 von Maria P.

[v] Vgl. Chronik, S. 32.

[vi] AA, Sign. 70611247, Krankenhaus Emden (Sandhorst); Sign.  70757259, Betriebs­kran­ken­kasse Marine Wilhelms­haven, die Belgierin Maria van Hagen.

[vii] NLA AU Rep. 253 Nr. 42, Zwischen­an­frage 397.

[viii] NLA AU Rep. 253 Nr. 56, Zwischen­an­frage 137.

[ix]  Vgl. Chronik, S. 40f.

[x] Vgl. AA, Sign. 70756612, 70756787, 70756874, Städti­sches Krankenhaus Wilhelms­haven; Sign. 70757269, Betriebs­kran­ken­kasse Marine­ar­senal Wilhelms­haven; Sign. 70575745, Ausländer bei Auricher Firmen; Sign. 11337264, Landge­richts­ge­fängnis Aurich: der Franzose Mathieu, M.. Der Hinweis „z.Zt. Gefängnis“ kann sich auf den aktuell genannten Zeitraum beziehen, kann aber auch bedeuten, dass er sich 1945 weiterhin im Gefängnis befand, da das Dokument erst 1945 erstellt wurde.

[xi] NLA AU Rep. 253 Nr. 56, Zwischen­an­frage 106.

[xii] AA, Sign. 70757090 u. 7075796, Betriebs­kran­ken­kasse; Sign. 76811306, 76811307 u 70575695, Standesamt Stadt Aurich, der Belgier Felix Camillus Meert.

[xiii] AA, Sign. 70757083, 70757085, 70757088, 70757089, Unfall­liste der Betriebskrankenkasse;

Sign. 70575773, Kranken­haus­liste Aurich (Sandhorst).

[xiv] AA, Sign. DE ITS 2.1.2.1 NI 072 11 DIV ZM, Betriebs­kran­ken­kasse, die Ukrai­nerin Raissa Sidelnik.

[xv] AA, Sign. 02020201 oS.