Bei dem am 18. Mai 2022 stattgefundenen Workshop über die Geschichte der NS-Zwangsarbeit und der Zwangsarbeitslager in Ostfriesland hat Dr. Oebele Vries einen Vortrag gehalten, der hier als zweiter Beitrag der Reihe veröffentlicht wird.

Das gegen Kriegsende eingerichtete Straflager für Niederländer in Brockzetel
Von Oebele Vries, Fryske Akademy in Ljouwert/Leeuwarden, Niederlande
Vor gut fünf Wochen, am 10. April 2022, verstarb, im Alter von 96 Jahren, Willem Tjalke Johan Jansen, der letzte bekannte Gefangene des Lagers Brockzetel, der noch am Leben war. Er war einer der etwa 400 Niederländer, die gegen Kriegsende in diesem Lager interniert waren. Zu den Gefangenen gehörte auch der jüngere Bruder meines Vaters. Mein Onkel hat die Lagerzeit zwar überlebt, ist aber dennoch relativ jung verstorben.
Brockzetel – lange dem Vergessen anheimgefallen
Lange Zeit war das Lager Brockzetel dem Vergessen anheimgefallen. Erst 1989 erschien das Buch „Aurich im Nationalsozialismus“, herausgegeben im Auftrag der Stadt Aurich. In dem Aufsatz von Manfred Staschen, „Die Arbeits- und Gefangenenlager um Aurich und das KZ-Außenlager in Engerhafe“ ist allerdings nur die Rede von einem ‘Gemeinschaftslager’ in Brockzetel.[i]
Im August 1944 wurden zur Erweiterung des Rollfeldes des Flugplatzes Wittmundhafen und zur Beseitigung von Luftkriegsschäden 300 italienische Soldaten in deutschen Uniformen im Lager Brockzetel untergebracht. Es fällt auf, dass die Italiener im Aufsatz von Staschen zunächst als Freiwillige und später als Militärinternierte bezeichnet werden, was etwas verwirrend wirkt. Im Buch war zusätzlich eine Skizze des Lagers aufgenommen, in der es allerdings nicht als ‘Gemeinschaftslager’, sondern als ‘Internierungslager “Brockzetel”’ bezeichnet wird. Diese Skizze wurde einer Prozessakte entnommen, die bedauerlicherweise – wie wir noch sehen werden – nicht weiter als Quelle benutzt wurde. In Staschens Aufsatz ist von Niederländern im Lager Brockzetel jedenfalls nicht die Rede.

Lager für 400 niederländische Polizeihäftlinge
Ein Jahr später, also 1990, veröffentlichte ich ein – im Vergleich kleines – Buch in niederländischer Sprache, jedoch versehen mit einer deutschen Zusammenfassung „Het strafkamp voor Nederlanders in Wilhelmshaven“.[ii] Darin beschrieb ich unter anderem, wie vom 11. März bis zum 6. April 1945 das Lager Brockzetel operationell als Haftort für etwa 400 niederländische Polizeihäftlinge diente, die aus dem Straflager „Schwarzer Weg“ in Wilhelmshaven dorthin verlegt worden waren. Das Lager Brockzetel wurde somit gegen Kriegsende zu einer Art Außenstelle des Lagers Schwarzer Weg. Aus anderer Quelle wissen wir, dass das Lager Brockzetel, bevor die Italiener kamen, als Kriegsgefangenenlager für französische Internierte eingerichtet worden war, die in der Landwirtschaft eingesetzt wurden.
Erste Gedenkzeichen in Wilhelmshaven 1990
Veranlasst durch das Erscheinen meines Buches 1990 besuchte noch im gleichen Jahr eine Gruppe von nahezu hundert ehemaligen Gefangenen der Lager Schwarzer Weg und Brockzetel die Stätten ihres Leidens, und zwar auf Einladung der Städte Wilhelmshaven und Aurich. Bei dieser Gelegenheit hatte ich ein Gespräch mit dem damaligen Bürgermeister von Aurich. Er zeigte sich immer noch etwas skeptisch, denn im Buch „Aurich im Nationalsozialismus“ wurde ja ein Straflager für Niederländer in Brockzetel nicht erwähnt.
In Wilhelmshaven wurde bereits 1990 eine bescheidene Gedenkstätte für das Lager Schwarzer Weg eingerichtet. Dank der Bemühungen, insbesondere von Enno Schmidt, dessen Namen ich hier mit großem Respekt nenne, konnte im Jahre 1995 auch in Brockzetel eine Gedenkstätte eingeweiht werden. Seitdem finden hier alljährlich, am gleichen Tag wie in Wilhelmshaven, Kranzniederlegungen statt.

Die etwa 400 Niederländer wurden offensichtlich von Wilhelmshaven aus nach Brockzetel verlegt um die Arbeit der Italiener am Flugplatz Wittmundhafen zu übernehmen. Die Leitung dieser Arbeit lag, wie auch im Lager Schwarzer Weg, bei der Organisation Todt (OT). Rein formal gesehen war das Lager Brockzetel gegen Kriegsende somit ein mit niederländischen Zwangsarbeitern (Polizeihäftlingen) belegtes Arbeitslager der OT.
Katastrophale Arbeits- und Existenzbedingungen
Auf dem Flugplatz mussten die Häftlinge Bombenkrater auffüllen und Wege anlegen. Wegen der Bombenangriffe auf diese Anlage war die Arbeit dort außerordentlich gefährlich. Die niederländischen Gefangenen mussten auch Arbeiten außerhalb des Flugplatzes leisten, vor allem Erdarbeiten. Am 21. März 1945 fand ein schwerer Angriff auf den Flugplatz statt. Hierbei gab es etliche Tote, zu denen auch ein Insasse des Lagers Brockzetel zählte, dessen Leiche nicht gefunden wurde.
Man kann nicht behaupten, dass die Gefangenen im Lager Brockzetel ständig terrorisiert wurden. Hingegen waren die hygienischen Zustände in diesem Lager katastrophal. Grauenerregend waren auch Ernährung und Krankenversorgung. Unter den Gefangenen gab es zwar einen Arzt, Dr. Sabbo Woldring, aber dieser war völlig hilflos, da Medikamente gänzlich fehlten.[iii] Als das Lager am 6. April geräumt wurde – der Flugplatz war mittlerweile durch die Bombenangriffe völlig unbrauchbar geworden – war ein großer Teil der Gefangenen erkrankt. An Krankheiten waren inzwischen sieben Gefangene gestorben. Ein Gefangener, Jan Vellinga, wurde erschossen. Auf seinen Fall komme ich noch zurück. Insgesamt sind neun Gefangene des Lagers Brockzetel ums Leben gekommen.
Mit einem Bleistiftstummel heimlich Tagebuch geschrieben
Ich komme jetzt zur Besprechung der Quellen, die ich für meine Beschreibung der Geschichte des Lagers benutzt habe. Es handelt sich erstens um das Tagebuch eines Gefangenen; zweitens um Erinnerungen von Gefangenen, die sie entweder kurz nach dem Krieg oder erst später über ihren Aufenthalt in den beiden Lagern aufgeschrieben hatten und drittens um die mündlichen Mitteilungen von mehreren durch mich befragte Gefangenen.
Von großer Wichtigkeit ist vor allem das Tagebuch. Bereits in Wilhelmshaven wurde den Häftlingen das Schreiben strengstens verboten. Dennoch gelang es dem Gefangenen Geert bij de Leij mit einem Bleistiftstummel in einem unauffälligen, in seiner Schlafpritsche – im Lager Brockzetel, wo es keine Schlafpritschen gab, im Stroh – versteckten Schreibblock heimlich fast täglich Notizen zu machen.
Prozess gegen Fooke Gerdes vor dem Schwurgericht Aurich 1951
Von allergrößter Wichtigkeit ist jedoch eine zusätzliche Quelle, und zwar die bereits kurz erwähnte Prozessakte, aus der die im Buch „Aurich im Nationalsozialismus“ abgedruckte Skizze stammte. Es handelt sich um die Akte des 1951 im Schwurgericht Aurich geführten Prozesses gegen den Führer der Wachmannschaft des Lagers, Fooke Gerdes, ein Volksschullehrer in Moorweg und Religionslehrer an der Volksschule in Klein Holum, der überdies kurz zuvor eine Vertretung an der Mittelschule in Esens übernommen hatte.
Der Akte ist Folgendes zu entnehmen: Gerdes, 47 Jahre alt, diente im Ersten Weltkrieg, wurde durch seine Kriegserlebnisse danach jedoch zu einem bekennenden Pazifisten. Vegetarier war er auch. Der christliche Glaube war ihm sehr wichtig. Er war Mitglied eines „Menschheitsbundes“, der sich durch eine besondere Achtung vor dem Leben und der Würde des Nächsten auszeichnete. Ich sehe in ihm einen idealistischen Menschen, der sein Leben an hohen Prinzipien ausgerichtet hatte. Allerdings wurde er 1941 Mitglied der NSDAP, nach seiner eigenen Erklärung aus Furcht, sonst als Lehrer entlassen und zum Wehrdienst eingezogen zu werden. Gegen Kriegsende, Mitte März 1945, wurde er vom Kreisleiter der NSDAP Wittmund, Diedrich Oltmanns aus Friedeburg, als Kompanieführer des Volkssturmes Moorweg mit der Führung der Wachmannschaft des Lagers Brockzetel beauftragt. Die Wachmannschaft wurde vom Volkssturm, die Lagerleitung von der OT gestellt. Die Lagerleitung unterstand allerdings dem Chef der Wehrmacht in Wittmundhafen. Die Aufgabe, vor die sich Gerdes gestellt sah, war eine schwere. Nach eigenen Angaben wurde ihm und seinen Volkssturmmännern gesagt, sie hafteten mit dem Kopf für jeden geflüchteten Holländer. Und es flüchteten etliche.
Der tödliche Schuss auf Jan Vellinga
Ein schlimmer Fall ereignete sich während des schweren Bombenangriffs auf Wittmundhafen am 21. März 1945. Vier niederländische Gefangene sollen sich Zugang in ein Bauernhaus verschafft haben, den 73-jährigen Besitzer eingesperrt und sich dann satt gegessen haben. Die vier wurden aufgegriffen. Ihr Verhalten wurde als Raub eingestuft und es kam dann der Befehl, wohl vom NSDAP-Kreisleiter Oltmanns, die vier „umzulegen“. Die Lagerwache weigerte sich jedoch, den Befehl auszuführen. Die vier landeten im Arrest.
Während einer abendlichen Lagebesprechung, bei der es vermutlich vornehmlich um diesen Vorfall ging, wurde gemeldet, dass ein weiterer Gefangener geschnappt worden war, der während der Arbeit fortgelaufen war. Dieser wurde zunächst zu den anderen vier in den Arrestbunker gesperrt. Nach der Lagebesprechung gingen Gerdes und sein Stellvertreter, der Volksschullehrer Wilhelm Derwig aus Utarp, zusammen hinaus. Sie ließen den Flüchtling, den 22-jährigen Jan Vellinga, aus dem Bunker holen. Gerdes und Derwig ließen sich dann von ihm die Stelle zeigen, wo er nach seiner aussichtslosen Flucht versucht hatte, sich unbemerkt wieder in das Lager zurück zu schleichen. Er wurde an Ort und Stelle erschossen.

Wer erschoss Jan Vellinga?
Nach dem Krieg erhob der Arzt Dr. Woldring bei den niederländischen Behörden schwere Anschuldigungen gegen Gerdes und Derwig wegen Mordes an Jan Vellinga. Derwig war allerdings Ende 1945 gestorben, so dass nur Gerdes, der kurz nach Kriegsende wegen seiner Parteizugehörigkeit aus dem Schuldienst entlassen worden war, Ende 1947 verhaftet und an die Niederlande ausgeliefert wurde. Jedoch wurde das Verfahren gegen ihn nach anderthalb Jahren wegen Mangels an Beweisen eingestellt und er wurde aus der Haft entlassen.
Dann geschah etwas völlig Unerwartetes: am 16. Dezember 1949 beantragte der Entnazifizierungsausschuss in Aurich bei der Staatsanwaltschaft die Wiederaufnahme des in Holland abgeschlossenen Verfahrens gegen Gerdes. Jetzt kam es tatsächlich zu einem Prozess. Der ehemalige Kommandant der Wachmannschaft wurde wegen gemeinschaftlichen Mordes und Verbrechens gegen die Menschlichkeit angeklagt. Gerdes sagte aus, nicht er, sondern sein Stellvertreter Derwig habe den tödlichen Schuss abgegeben. Er wurde vom Schwurgericht Aurich am 17. November 1951 freigesprochen, wiederum aus Mangel an Beweisen.[iv]
Eine ganz andere Person als die ich von den Fotos aus der Prozessakte kannte
Viele Jahre später, 2003, als Gerdes schon längst verstorben war (†1977), hatte ich während der Busfahrt nach Wilhelmshaven und Brockzetel zur jährlichen Gedenkfeier ein Gespräch mit einem der ehemaligen Gefangenen des Lagers, Pieter Dijkstra. Er hatte sich mir gegenüber von Anfang an äußerst negativ über Gerdes ausgelassen, den er ohne jede Spur von Zweifel für den Mörder von Jan Vellinga hielt. Seine Aussage war für mich nicht bestreitbar, wenn sie auch nicht zu dem Bild passte, das ich mir von Gerdes inzwischen gemacht hatte, denn ich kannte Dijkstra als einen der Bestinformierten aus dem Kreis der ehemaligen Gefangenen. Während unseres Gespräches fragte ich ihn, wie Gerdes denn eigentlich ausgesehen habe. Er beschrieb dann eine ganz andere Person als die ich von den Fotos aus den Prozessakten kannte.
Dijkstra war dann plötzlich davon überzeugt, dass es nicht Gerdes, sondern Derwig war, der den tödlichen Schuss abgegeben hatte. Seine Beschreibung, so stellte sich im Nachhinein heraus, passte tatsächlich ziemlich genau auf Derwig. Dijkstra erklärte sich sogar bereit, seine Aussage, falls erforderlich, zu beeiden. Johannes Diekhoff, der langjährige Leiter des Europa-Hauses in Aurich zu dem wir eine gute Verbindung hatten, berichtete 2003 unter dem Titel „Späte Entlastung vom Mordvorwurf” ausführlich über Dijkstras Aussage.[v] Ein Sohn von Gerdes hat danach an einer der nächsten Gedenkfeiern in Brockzetel teilgenommen. Zu einer Beeidung von Dijkstras Aussage ist es allerdings nicht gekommen.
„In stiller Anteilnahme“
Als wir am 5. April 2014 wieder zur jährlichen Kranzniederlegung in Brockzetel eintrafen, lag an der Gedenkstätte ein Briefumschlag mit einem Zettel folgenden Inhalts: “In stiller Anteilnahme an den Tod des noch so jungen Jan Vallinga. Es war hinterhältiger Mord! Gezeichnet: Ernst Tannen, Nordenham.“
Nach meiner Rückkehr setze ich mich mit Herrn Tannen in Verbindung. Er war – so stellte sich heraus – Justizoberamtsrat in Ruhestand und langjähriges Kreistagsmitglied. Ich lud ihn danach zur Gedenkfeier des nächsten Jahres ein. Am 11. April 2015 hat Ernst Tannen dann am Gedenkstein erzählt, was hier vor siebzig Jahren geschehen war. Ich zitiere den Bericht aus den Ostfriesischen Nachrichten vom 13.4.2015:
“Ich trete nicht als Zeitzeuge auf. Aber mein Vater war hier Wachmann und erzählte, wie der Schulmeister Wilhelm Derwig hier jemanden ermordete”. Tannen selbst war zur Kriegszeit Schüler von Derwig und hatte ihn als treuen Parteigänger in Erinnerung.
Auch in dem nur kurz existierenden Lager wurde schwer gelitten
Abschließend möchte ich noch Folgendes bekräftigen. Trotz des Falles Vellinga kann man nicht sagen, dass im Lager Brockzetel ständiger Terror herrschte. Die meisten Volkssturm-Wachmänner waren nach Aussagen von mehreren Gefangenen alles andere als fanatisch. Die schlimmsten Feinde der Gefangenen waren die katastrophalen hygienischen Zustände, die mangelnde Ernährung, die fehlende Krankenversorgung, die ständige Ungezieferplage sowie die gefahrvolle Arbeit am Flugplatz. Aber auch in solch einem Lager konnte es, wie die Erschießung von Jan Vellinga zeigt, zu einem Akt des Terrors kommen. Und auch in diesem kleinen, nur kurz existierenden und langen völlig vergessenen Lager wurde schwer gelitten.
[i] Vgl. Manfred Staschen, Die Arbeits- und Gefangenenlager um Aurich und das KZ- Außenlager in Engerhafe, in: Herbert Reyer (Hrsg.), Aurich im Nationalsozialismus, Aurich 1989, S.421–446, hier: S. 437.
[ii] Oebele Vries, Het strafkamp voor Nederlanders in Wilhelmshaven. Dagboek en herinneringen januari – mei 1945, Assen 1990.
[iii] Dieser Dr. Woldring sollte als hervorragender Krebsforscher nach dem Krieg noch eine glänzende Karriere in den Vereinigten Staaten machen.
[iv] Das Urteil wurde anonymisiert veröffentlicht, in: Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966, Bd. IX, Amsterdam 1972, S. 299 ff. Der Fall Jan Vellinga wurde literarisch verarbeitet durch Erhard Brüchert, Frostfieber in Friesland. Roman zur Elfstedentocht, Norden 1999, S. 123–125 und 143–154.
[v] Johannes Diekhoff, Späte Entlastung vom Mordvorwurf, in: Ostfriesland-Magazin, Norden 2003 (Nr. 5), S. 40f; auch in: Heimatkunde und Heimatgeschichte, Aurich 2005 (Folge 3), S. 1f.